Aristoteles unterschied die sinnliche Wahrnehmung (aistesis, „Ästhetik“) und die geistige Wahrnehmung (noesis, „Intellekt“). Dabei ist die sinnliche Wahrnehmung – da in ihr die sinnlichen Wahrnehmungsobjekte empirisch gegeben sind – die Grundlage der geistigen Wahrnehmung, in der diese mit Hilfe der Vorstellung (phantasia) in ihrer verständlichen Form und ihrem Wesen nach erfasst werden. Der mittelalterliche Philosoph Nikolaus von → Kues sagt: „Die höchste Seligkeit besteht in der Wahrnehmung der Wahrheit.“ Für den Begriff benutzt er auch „Schau“ (visio) und „Spekulation“. Damit ist jedoch nicht der heute übliche Begriff gemeint, der sogar das Gegenteil davon darstellt. Für Nikolaus von Kues ist Spekulation die wesentlichere, tiefere Wahrnehmung. Sie bedeutet eindringliches geistiges Erfassen der Wirklichkeit.
Schon Aristoteles benutzt das griech. Wort theoria für diese beglückende Wahrnehmung. Auch dieses Wort ist inzwischen zu einem beinahe abwertenden Begriff geworden. Dabei ist seine ursprüngliche Bedeutung die Schau oder Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Die Etymologie des Wortes „wahrnehmen“ zeigt, dass dieses Wort keinen Bezug zur Wortbedeutung von „Wahrheit“ hat (Mhd. war, ahd. Wara = „Aufmerksamkeit, Acht, Aufsicht“). Wahrnehmung hat also viel mit → Achtsamkeit, mit → Aufmerksamkeit zu tun. Ohne wache und absichtliche Aufmerksamkeit kann nicht wahrgenommen werden. Die „beglückende Wahrnehmung“ in Kues’ Sinn, in der indischen Philosophie satchidananda („Sein-Bewusstsein-Seligkeit“), ist ein → Bewusstseinszustand, der die Wirklichkeit in sich aufnimmt, denn das Bewusstsein benötigt auch Nahrung. Nach Nikolaus von Cues vollzieht sich das „Leben in der Wahrheit“ in der Struktur eines Weges der Aufmerksamkeit, d.h. der Wahrnehmungsstufen. Er spricht von einem „Weg zur Schau der Wahrheit“. Diese Schau des Ursprungs bedeutet Nahrung und Freude.
In einem solchen Zustand wird die sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit auf eine vertiefte Weise erreicht. Es kommt nicht darauf an, rein geistige Dinge zu sehen. Es geht um verschiedene Wahrnehmungsweisen. Eine solche „Spekulation“ der „tieferen“ Erfassung der Wirklichkeit ist uns eigentlich vertraut: Wer ein Musikstück hört oder ein Gemälde betrachtet, kann zuerst nur die aufeinander folgenden Töne oder die einzelnen Farben wahrnehmen. Doch hört oder sieht man genauer hin, so nimmt man eine Melodie oder eine Bildkomposition wahr. Wenn man die Melodie oder die Komposition darüber hinaus noch als „schön“ empfindet, dann ist man der Wirklichkeit, der Qualität des Musikstücks oder des Bildes noch näher. Echte Wahrnehmung stellt so einen Kontakt mit einer Qualität, einem geistigen Erlebnis her.
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