Das Wir liegt im Trend. Doch was braucht es vom Ich, um ein Wir lebendig und kreativ werden zu lassen? Über sich hinauszuwachsen ist eine Fähigkeit, die in vielen historischen und aktuellen Ereignissen zum Ausdruck kommt. In ihrem Artikel (zunächst erschienen in evolve) macht die Kulturanthropologin deutlich, wie komplex das WIR ist.
von Nadja Rosmann
Das Ich, das ganz für sich selbst steht, scheint sich zunehmend an sich selbst zu erschöpfen und nach Wegen zu suchen, sich als Teil von etwas Größerem neu zu (er)finden. Längst sind es nicht mehr nur die postmodernen Subkulturen, die erweiterte Formen des Miteinanders proklamieren. Sogar in der Wirtschaft, in der eine Ellbogenmentalität als bisher selten hinterfragte Basis für Zukunftsfähigkeit gilt, richtet sich der Blick zunehmend auf Prinzipien der Kooperation und der Gemeinsamkeit.
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos plädierte die renommierte Neurowissenschaftlerin Tania Singer leidenschaftlich für ein Prinzip der Fürsorge, das das gemeinsame Wirken zum Wohle aller an die Stelle des Wettstreits setzt. Die Mächtigen des globalen Business lauschten ihr andächtig. Zeitgleich legte das Zukunftsinstitut eine Studie zur „neuen Wir-Kultur“ vor, die ebenfalls einen Shift vom Einzelkämpfertum zum kooperativen Wirken im Dienste eines größeren Ganzen beschreibt.
Vor allem in der jungen Generation zeichnet sich längst ein grundlegender Einstellungswandel ab. 60 Prozent der Studierenden und Absolventen wollen mit ihrer Arbeit Menschen helfen und die Welt verändern und 80 Prozent einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen, so eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Tochter embrace. In diesem wachsenden Interesse an Empathie und Mitgefühl, gesellschaftlichem Engagement und Gemeinschaftssinn scheint eine neue Dimension menschlichen Selbstverständnisses auf, die sich stärker auf das richtet, was uns als Menschen verbindet, als auf das, was uns trennt. Doch was braucht es von uns, damit wir in unserer Individualität diese Verbundenheit auch leben und uns vielleicht sogar als ein Wir erfahren können? Und wie verändert sich unser Ich, das bisher der Fixpunkt unseres In-der-Welt-Seins ist, wenn wir uns stärker in dieser Beziehung zu anderen erkennen?
Sehnsüchte des Ich
Der Weg zum Wir beginnt mit einem Paradox. „Unsere erfahrungsgemäße und praktische Perspektive auf die Welt ist untrennbar von selbstkonstitutiver Agenz. Was wir als Personen sind, ist ein von der Perspektive der ersten Person getriebener Prozess“, erklärt der Philosoph Jan Slaby. Vereinfacht ausgedrückt: Wir stehen als autonomes Ich in der Welt und die Beziehungen, die wir eingehen, sind von diesem Für-sich-Stehen geprägt. Diese Reife des Ich führt dazu, dass wir uns nicht einfach in ein prä-modernes Wir zurückfallen lassen können, das von traditionellen und meist unhinterfragbaren Verbindlichkeiten getragen wird – seien es gesellschaftliche Konventionen oder die Unterordnung in bestehenden Autoritäten. Wir stehen an der Schwelle, neue Wir-Räume zu erschaffen, die von einer frei gewählten Gemeinschaftlichkeit genährt werden. In einer Studie der Beratungsgesellschaft Ernst & Young etwa stehen auf der Prioritätenliste für rund zwei Drittel der befragten Studenten die Familie, Freunde und das soziale Umfeld an oberster Stelle. Zum Wir gehört hier, zu wem das Ich eine Beziehung haben möchte und wer ihm persönlich nahe steht. Und es liegt bereits die Ahnung in der Luft, dass dieses Wir noch weiter werden könnte. Einer von 14 Befragten ist genauso daran interessiert, in die Gesellschaft als Ganzes zu wirken und damit den Raum des Wir über das bereits Vertraute hinaus auszudehnen.
Durchlässige Konturen
Vielleicht sind wir ohnehin schon viel stärker in größere Beziehungsräume eingebunden, als wir im Alltag gemeinhin wahrnehmen. „Unsere Agenz ist auch bestimmt durch die Unvermeidbarkeit ihrer Abhängigkeit und Fragilität. In diesem Sinne sind wir alle der gegenseitigen Gnade ausgeliefert, was auf einer tiefen Ebene zu existenzieller Wechselseitigkeit führt“, erklärt Slaby. Wir teilen mit anderen die Verletzlichkeit unseres Daseins als Menschen und sind mit ihnen hierin verbunden. Und im gemeinsamen Handeln, im vereinten Engagement können wir diese Ko-Präsenz, die unser Ich weiter werden lässt, bewusst erfahren.
Oft sind es besonders anregende Gespräche, die uns über uns selbst hinaustragen. Wir unterhalten uns mit anderen, ein Wort kommt zum anderen, Gedanken beginnen, sich ineinander zu bewegen. In solchen Momenten denken wir nicht mehr daran, wer wir sind und woher wir kommen, wer die anderen sind und was sie von uns unterscheidet. Wir folgen einfach einem Sog natürlichen Interesses, etwas im besten Sinne des Wortes in Erfahrung zu bringen. Und unser Sprechen wird zum Wasser, das den Gesprächsfluss speist. In Augenblicken wie diesen ist es nicht wichtig, aus welcher Quelle dieser Fluss entspringt noch in welches Meer er münden wird. Unsere ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fließen selbst. Unser Ich verschwindet dabei nicht, sondern ist, ganz im Gegenteil, als das Wissen, die Einsichten und die Fähigkeiten, die wir uns im Laufe unseres Lebens angeeignet haben und die sich im Gespräch ausdrücken, völlig präsent. Und doch scheinen wir in Momenten wie diesen weit mehr zu sein als dieses Ich. Wir werden mit unseren Gesprächspartnern zu einer Bewegung, die über sich hinausweist. Erfahrungen wie diese lassen uns erkennen, dass ein Wir mehr sein kann als willentlich hergestellte Bezüge zwischen einzelnen Menschen. Das Wir der sozialen Gruppe geht subtil über in ein Wir des geteilten Prozesses. Individualität, Gemeinschaftlichkeit und schöpferische Kreation werden zu einer Entfaltung – und erkennen sich als das immer Lebendige selbst.
Zwischen Ich-Sein und Wir-sein-Können
Der Zauber dieser Augenblicke, das in ihnen aufscheinende grenzenlose Potenzial, nährt die Frage, ob und wie es möglich werden könnte, sie auszudehnen, sodass singuläre Phänomene sich vielleicht zu einer stabilen Wirklichkeit verdichten. Ist es möglich, die Fähigkeit zu kultivieren, gleichermaßen ein Ich wie ein Wir zu sein? Das Ich in seiner Begrenztheit zu erkennen und über es hinauszugehen, ohne es dabei aufzugeben?
Der gezielte Versuch kann leicht das Gegenteil bewirken. „Je mehr man der Idee der Nichtanhaftung anhängt, desto fester bleibt man gefesselt. Je mehr man sich der das Ich überschreitenden Suche bewusst wird und stolz über diese Suche ist, desto klarer ist das eigene Ich noch im Zentrum“, warnt die Entwicklungspsychologin Susanne Cook-Greuter. Und doch ist es das Ich, von dem die Bewegung über es hinaus ausgeht. „Eine regelmäßige Praxis des Sich-nach-innen-Kehrens und das Beobachten der eigenen Gedankenprozesse führt häufig zu der spontanen Erfahrung einer direkten Form des Seins, in der Beobachter und Beobachtetes für einen Augenblick verschmelzen“, so Cook-Greuter. Unser Ich verliert sich dabei nicht, wir sind immer noch hier – doch unsere Konturen, die uns vom Dasein gewöhnlich abschotten, werden durchlässig.
Diese Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie decken sich mit den verschiedenen Entfaltungsstufen, die die neurowissenschaftliche Meditationsforschung in den letzten Jahren intensiv erkundet hat. In der öffentlichen Diskussion stehen bisher vor allem die ersten drei dieser Entwicklungsstufen im Fokus, in denen das Individuum innere Ruhe und Entspannung erfährt und sich die Anhaftung an die eigenen Gedanken zu lösen beginnt. Hier befreit sich das Ich erst einmal von Wahrnehmungen, die ein gesundes, ausgeglichenes Ich-Sein beeinträchtigen. Diese Fähigkeit lässt sich von Anfängern innerhalb weniger Wochen entwickeln und wird gegenwärtig vor allem unter den Vorzeichen ihrer medizinischen und psychischen Wirkung diskutiert.
Im Hinblick auf unsere Wir-Kapazitäten wesentlich interessanter sind indes die beiden folgenden Stufen, die von der Wissenschaft bisher vor allem bei Langzeitmeditierenden, darunter viele in den großen spirituellen Traditionen praktizierende Mönche, festgestellt wurden. Neben Klarheit und Wachheit stellen sich mit zunehmender Praxis nämlich auch Wahrnehmungen einer höheren Verbundenheit und Hingabe an etwas Größeres ein. Das Ich selbst wird durchlässiger, was so weit gehen kann, dass es in einer Erfahrung der Non-Dualität, der Grenzenlosigkeit, des Einsseins geradezu aufgeht, sodass eine Form „reiner Bewusstheit“ zum Daseinsmodus wird. Das Ich verschwindet dabei nicht, sondern erkennt sich selbst als eine umfassendere Ganzheit. Diese Erfahrung der Transzendenz kann das Ich darauf vorbereiten, auch in seinen alltagsweltlichen Bezügen aus einer transparenteren Haltung heraus zu agieren und in eine natürliche Offenheit für das eigene Wir-Sein hineinzuwachsen – ein Potenzial, das zwar immer schon gegeben ist, aber erst im bewussten Erkanntwerden seine tiefere Möglichkeit entfaltet.
Ausrichtung über eine Absicht hinaus
Die jüngsten Forschungen von Tania Singer beispielsweise legen nahe, dass diese über das Ich hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit ein neues Miteinander in konkreten Wir-Bezügen möglich machen könnte. In dem von ihr initiierten ReSource-Projekt wurden rund 300 gesunde Probanden mit verschiedenen Meditationsmethoden und weiterführenden Übungen vertraut gemacht. „Erste Ergebnisse legen nahe, dass die Veränderungen, die sich einstellen, von der Art der mentalen Übungen, die intensiv praktiziert wurden, abhängen. Sozio-kognitive Fähigkeiten beispielsweise, wie die Gabe, andere Menschen besser zu verstehen, verbesserten sich nur nach Trainings, die dafür entwickelt wurden, diese zu kultivieren – nicht jedoch allein durch grundsätzliche Achtsamkeitsübungen“, erklärte die Neurowissenschaftlerin in Davos.
Es scheint also, dass wir uns, um zu der von Jan Slaby beschriebenen Ko-Präsenz zu gelangen, in irgendeiner Form auf sie ausrichten müssen – und können. Im Bohmschen Dialog zum Beispiel sind es das Einüben einer erkundenden Haltung und das In-der-Schwebe-Halten der eigenen Annahmen und Bewertungen, die das Ich freier werden lassen, in einen über es hinausweisenden Raum einzutreten. Otto Scharmer setzt in dem von ihm entwickelten U-Prozess mit dem Presencing auf Praktiken der Stille, die es ermöglichen, etwas, das nicht bereits im eigenen Ich vorgedacht ist, „kommen zu lassen“. Und auch in der Transparenten Kommunikation nach Thomas Hübl und den bei EnlightenNext erprobten Evolutionären Dialogen ist es das Wechselspiel zwischen Meditation und Dialog, das gewissermaßen eine Wachstumsspirale in Gang setzt, die das Ich mit zunehmender Praxis immer weiter über seine Selbstgrenze hinausträgt.
Unbegrenztes findet einen neuen Ausdruck
Wenn solche Dialoge gelingen, ist diese Weite für die Beteiligten unmittelbar wahrnehmbar. Doch wie genau teilt sich diese Qualität mit? Die Sprache, die spricht, kann uns Anhaltspunkte liefern. „Der linguistische Prozess, alles in polare Gegensätze zu spalten, kann nun bewusst werden. Die Realität ausschließlich von der Perspektive des Selbst und mittels des Mediums der Sprache zu betrachten, ist verwandelt“, erklärt Susanne Cook-Greuter, die bei der Erforschung der Ich-Entwicklung mit linguistischen Tests arbeitet. Dann frage ich mich vielleicht nicht mehr, wie ich ein vorgefasstes Ziel erreichen kann, sondern spüre, welche weitere Möglichkeit durch mich hindurchscheint und verleihe ihr Ausdruck. Dann liegt in meinem Schweigen genauso viel Bedeutsamkeit wie in meinem Sprechen.
Wie radikal dieser Shift ist, konnte ich in einer Dialoggruppe erleben, die einige Tage zuvor gemeinsam 24 Stunden meditiert hatte. In der Gesprächsatmosphäre war die von Slaby angeführte Ko-Präsenz für alle greifbar. Wir waren nicht nur eine Handvoll Menschen, die sich miteinander über etwas austauschten. Die Grenzenlosigkeit der Meditation war mit uns und durch uns gleichermaßen präsent. Und wir redeten nicht mehr allein aus dem Raum unserer persönlichen Erfahrung, sondern diese meditative Weite teilte sich im Gespräch ebenfalls mit.
Wenn Menschen auf diese Weise sprechen, „scheint ein spontaner Informationsstrom aus ihrem Mund zu fließen, sie haben das Gefühl, als wären nicht sie es, die sprechen, sondern als fließe die Sprache durch sie hindurch“, beschreibt die integrale Denkerin und Transformationsexpertin Terri O’Fallon diese Qualität. Die Worte, die erklingen, wirken dann verblüffend und frisch. Und es ist völlig gleich, wer sie gerade ausspricht, denn alle können spüren, dass sie selbst gleichfalls ihre Quelle sind. Interessanterweise spielt die Unterscheidung von Ich und Wir, von Individualität und Beziehung, dann keine Rolle mehr, da beide Dimensionen gleichzeitig anwesend sind.
Zur Einladung werden
Noch sind Momente wie dieser eher Zufallsgeschenk denn etablierter Daseinsmodus. Das Wir-Sein möchte gelernt sein, damit es alltäglich werden kann. „Auf der frühen Ebene wird die neue Qualität wahrgenommen, aber weil sie so neu ist, ist es kaum möglich, ihr Vorrang einzuräumen“, erklärt O’Fallon. Wie in einem „Schaukelstuhl-Muster“ ist mal das Wir im Vordergrund, mal eher das Ich. Demut und Hingabe sind hier oft der wichtigste Schlüssel zur Stabilisierung und Entfaltung des Wir-Potenzials, denn wer einmal eine transformierende Wir-Erfahrung gemacht hat, glaubt allzu leicht, die Erhabenheit des Augenblicks konservieren zu können. Im stetigen Üben, im Transparentwerden des Ich in der Meditation, in der inneren Ausrichtung auf die Möglichkeit des Wir im Alltag, in einer Offenheit in alle Richtungen, kann sich die umfassendere Perspektive als tatsächlicher Lebensraum immer mehr entfalten. „Neue Wirs in Politik, Gesellschaft und Unternehmen lassen sich nicht einführen, sondern höchstens einladen“, sagt Kirsten Brühl vom Zukunftsinstitut in ihrer Wir-Studie. Sie entstehen am ehesten dann, wenn wir uns als „Ermöglicher“ verstehen – als Katalysatoren für etwas, das durch uns Realität werden kann und dabei doch weit über uns hinausweist.
Der Text ist zuerst erschienen in evolve – Magazin für Bewusstsein und Kultur. Wir können es sehr empfehlen!
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Über Dr. Nadja Rosmann:
Sie ist Kulturanthropologin mit dem Schwerpunkt Identitätsforschung. Sie arbeitet als Journalistin, Kommunikationsberaterin und wissenschaftliche Projektmanagerin vor allem zu Themen aus den Bereichen Wirtschaft und Spiritualität und betreibt das Weblog think.work.different: www.zenpop.de/blog Kürzlich ist das Buch „Mit Achtsamkeit in Führung – Was Meditation für Unternehmen bringt“ erschienen, das sie gemeinsam mit Paul J. Kohtes geschrieben hat.
Aktuelles Buch:
Paul Kohtes, Nadja Rosmann: „Mit Achtsamkeit in Führung: Was Meditation für Unternehmen bringt. Grundlagen, wissenschaftliche Erkenntnisse, Best Practices“
Verlag: Klett-Cotta, 2014
Umfang: 276 Seiten
Preis: 30,- €
ISBN: 978-3608948653
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