Für Ihr neues Buch „Alles ist Yoga“ sammelte und schrieb Doris Iding bewegende und inspirierende Geschichten über Spiritualität und Alltag, Ideal und Wirklichkeit, Suchen und Finden. Dabei untersucht sie augenzwinkernd manch esoterische Glaubenssätze und motiviert, sich selbst einmal zu hinterfragen, wo man auf seinem Weg gerade steht. Und mitunter erzählt sie recht persönlich über ganz eigene Erfahrungen…
Es gab eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, große spirituelle Fortschritte zu machen. In der Meditation wähnte ich mich in Zuständen tiefer Stille und Eintracht mit mir und dem Universum. Während mehrtägiger Meditationsretreats hatte ich Lichterscheinungen, konnte Gedanken lesen und fühlte mich, als wenn ich einen direkten Draht zum Universum hätte. Stolz erzählte ich in den Abschlussrunden von meinen Erfahrungen. Im Alltag zeigte sich mein spiritueller Fortschritt dadurch, dass ich nicht mehr so identifiziert mit verschiedenen gesellschaftlichen Rollen oder persönlichen Gefühl, sondern einfach präsent war. Ja, ich war wach, offen und aufmerksam, für das was gerade war.
Aber dann kam eine Zeit, in der alles stagnierte. In der Meditation war ich nicht in der Lage, auch nur eine Sekunde eine Pause zwischen meinen Gedanken zu entdecken, geschweige denn, in dieser Pause zu entspannen. Egal, wie lange ich meditierte – nichts passierte. Keine Stille, keine Lichterscheinungen, gar nichts außer Selbstanklagen. Auch jenseits des Meditationskissens lief nichts so, wie ich es wollte. In meiner Beziehung gab es viel Streit, meine Arbeit viel mir schwer und überhaupt, wäre ich am liebsten aus allem ausgestiegen. Auch in meiner Yogapraxis hatte ich das Gefühl, das meine Muskeln sich verkürzt hatten und ich die Stellungen längst nicht mehr so halten konnte, wie ich es gewohnt war. Auf den Punkt gebracht: Ich war verzweifelt. Ich blickte auf eine langjährige Meditationspraxis zurück, hatte viel Geld und Zeit in spirituelle Retreats gesteckt und hatte plötzlich das Gefühl, nicht einmal zu wissen, was Spiritualität überhaupt bedeutete. Ja, ich hatte plötzlich das Gefühl, dass alle Investitionen in meinen spirituellen Fortschritt nicht nur um sonst, sondern sogar eine reine Fehlinvestition gewesen waren. Je länger der Zustand anhielt, desto wütender, ungeduldiger und verzweifelter wurde ich mit mir selbst.
Nachdem dieser Zustand mehrere Monate anhielt, meldete ich mich zu einem weiteren Meditationskurs an, in der Hoffnung, während eines solchen Retreats wieder zu meiner gewohnten inneren Ruhe zurück zu finden. So sehr ich mich auch bemühte, zwang, motivierte, anspornte und selbst zu überlisten versuchte, aber auch nach einer Woche meditierend, praktizierend und schweigend tat sich nichts. Die Gedanken in meinem Kopf waren immer noch genauso laut und zäh und Lücken zwischen den Gedanken konnte ich nicht ausmachen. Lichterscheinungen gab es keine mehr. Es war eher dunkeln und depressiv in mir.
In der Abschlussrunde erzählten einige Teilnehmern von ihren Lichterfahrungen, spirituellen Einsichten, tiefen Erkenntnissen und der inneren Ruhe, zu der sie in diesen Tagen gefunden hatten. Andere Teilnehmer schwiegen. Nur ich erzählte mit Tränen in den Augen, von meiner Verzweiflung und dass ich seit Monaten im Nebel hockte. Der spirituelle Lehrer, der dieses Retreat leitete, meinte, dass ein solcher Zustand ein sehr gutes Zeichen für einen Schritt in eine nächste Entwicklungsstufe sein könnte. Er meinte aber auch, dass ich dafür diesen Zustand zuerst einmal bedingungslos annehmen müsste, damit sich ein gewisser Fortschritt einstellen konnte. Das würde auch bedeuten, dazu bereit zu sein, dass ich mich für den Rest in diesem Nebel befinden würde. Nach einem inneren Kampf nahm ich an, was angenommen werden wollte – ein Leben in gedanklichem Dickicht und Nebel. Ich erklärte mich aber nicht nur über den Verstand bereit dazu, sondern willigte mit jeder Zelle meines Körpers ein. Und siehe da. In dem Moment, als ich keinen Widerstand mehr gegen meine Gedanken im Kopf, die innere Stagnation und das Gefühl des Verzweifelns leistete, war es, als hätte sich eine Türe in mir aufgetan und es wurde wieder heller, Tag für Tag ein kleines Stückchen.
Was mich an dieser Erfahrung am meisten erstaunte, war aber etwas anderes: Einige Seminarteilnehmern waren nach der Abschlussrunde zu mir gekommen und hatten mich angesprochen. Es waren solche Teilnehmer, die sich in Abschlussrunden nicht zu Wort melden, weil sie sich schämen, dass sie keine Lichterfahrungen machen, keinen Fortschritt machen und auch keine Lücken zwischen den Gedanken wahrnehmen. Sie sprachen mir ihre Bewunderung aus und waren ganz berührt von meinem Mut über meine Verzweiflung zu sprechen. Und sie waren dankbar dafür zu erleben, dass es außer ihnen auch andere Menschen gibt, bei denen es mal nicht weitergeht. In diesen Gesprächen merkte ich zum ersten Mal, dass viele den spirituellen Weg mit ihrer beruflichen Karriere verwechseln Ja, durch diese Gespräche realisierte ich erstmals, dass wir unbewusst in einer spirituellen Leistungsgesellschaft leben, in der es bei den meisten ums Weiser-Erleuchteter-Besser geht. Dabei haben mir persönlich wenige Zeiten in meinem Leben bei meiner spirituellen Entwicklung so geholfen, wie diese Phase, in der es mal nicht weiterging
Autorin: Doris Iding
Auszug aus „Alles ist Yoga“, Schirner Verlag